Ohne jetzt das Buch zu kennen: Prof. Neitzel erscheint mir, nach allem, was ich bisher von ihm sah (vornehmlich im TV in Dokumentationen zu verschiedenen kriegsgeschichtlichen Themen), als äußerst kompetent und vor allem unaufgeregt wertend.

Was Afghanistan anlangt: Ich habe nicht wirklich Ahnung. Dass es aber, nach allem, was man bisher an Informationen, auch über andere Kriegsschauplätze und den dortigen Einsätzen amerikanischer Truppen, bekam (und was sich im Nachgang auch verifizieren ließ bzw. verfiziert wurde), zu Übergriffen gegenüber dem Gegner kommen würde, war so und istso mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit.
Was den BW-Einsatz am Hindukusch (Verteidigung usw. s. SPD-Verteidigungsminister Struck, aber auch "Die Grünen" mit Fischer an der Spitze) anlangt: Die Verfassung hat solche "Auslandseinsätze" (und nicht nur Afghanistan) nicht wirklich zugelassen. Und man hat das GG dafür zurecht geschnitten. Es hätte Proteste geben müssen. Nun ist man verstrickt.

OldMan

Danke, @eljem, Deine "Kritik" regt jedenfalls zum Lesen an. Bin zwar diesbezüglich auch schwer beschäftigt, aber das muss dann noch eingeordnet werden.
OldMan

Gestern traf bei mir Neitzels Buch ein. Ich habe als erstes das Kapitel zur NVA gelesen und muss sagen, dass ich, mit wenigen Ausnahmen, die aber wohl auch durch die spezielle Art meiner persönlichen "Dienstableistung" bedingt sind, dem Gelesenen zustimme.
Was die "Tradition" anbelangt, in der sich die NVA als deutsche Armee außerhalb der "gewöhnlichen" Linien anderer deutscher Armeen bewegte, so muss ich, auf Grund meiner eigenen Erfahrungen, sagen, dass es da eine sozusagen "offizielle" Linie und eine "individuelle" Linie gab (zumindest schien es so in meiner Alters-Kohorte, später mag das sich verändert haben, d.h. das Individuelle trat wegen allgemeinem Desinteresse in den Hintergrund). Die "offizielle" Linie umreißt Neitzel klar und die ist allen NVA-Gedienten sicherlich auch völlig bekannt.
Die von mir so genannte "individuelle" Linie bestand darin, dass man gerade in der wenig nach dem WK II geborenen männlichen Jugend noch "Erinnerungen" an die "alten" Armeen hatte und sich selbst auch in verschiedener Form in die Reihe mit seinen Vätern und Großvätern stellte, deren Erzählungen zu gelegentlichen Familienfeiern die geleisteten Dienste in kaiserlicher Armee, Reichswehr und Wehrmacht zumindest in der Fantasie dessen, der sie anhören konnte/musste, Bilder hervorrief, die sich mit selbst gemachten Erfahrungen in der NVA dann in Kongruenz bringen ließen.
Ob diese Vorstellungen immer "positiv" im Sinne der von der politischen Führung der NVA gewünschten Richtungen waren oder auch "negativ", das sei dahin gestellt. Im Übrigen trug ausgerechnet (Neitzel erwähnt das auch so) das Einzige, was die NVA als extrem deutsch übernommen hatte, nämlich die Uniform, dazu bei, sich in eine Reihe mit Großvater, Vater und ev. weiteren Vorfahren zu stellen. Sicherlich haben das nicht alle so gemacht oder wenigstens gedacht, aber die "Gebildeteren" unter den Soldaten und Zeitfreiwilligen hatten oft (selbst erlebt) solche Attitüden. Und manchmal wurde das auch von Vorgesetzten (nicht offiziell) "gestützt".
Oder im (allerdings oft deftigen) Männer-Ulk kam manchmal etwas an "alte Zeiten" Erinnerndes durch.
Ich kam aus einer Familie, in der Berufssoldatentum in alten Armeen vorkam; bei mir färbte das bis in die Wolle ab und ob das nun NVA war oder nicht, als man mich überraschend 1972 einziehen wollte, nachdem ich seit 1966 ausgemustert war, hatte ich nicht die Absicht, "Schütze Arsch im letzten Glied" zu spielen: Auch das war ein Grund, mich freiwillig für 3 Jahre zu verpflichten.

Soweit erst einmal eine erste Bemerkung zum Buch. Nun werde ich es von vorn bis hinten durchlesen und meine Meinung ebenfalls posten.

OldMan

Ich habe nun auch den Kaiser-Reich-Teil (I. Auf dem Weg zur Weltmacht. Das Militär im Kaiserreich (1871-1918)") gelesen. Insbesondere das "Friedensmilitär" in seiner Beschreibung und Wertung weist für mich erstaunlich viele Parallelen zu dem auf, was ich in der NVA erlebte oder wovon ich hörte (wobei man bei Hörensagen doch immer vorsichtig sein muss): "Tribal culture" und Schikanen sind also ganz offensichtlich Erscheinungen, die vordergründig im Menschen liegen und vom "System" "nur" befördert oder zurückgedreht werden, abhängig von der "hinterlegten" Ideologie. Der ideologische Hintergrund im Handeln lässt trotzdem die Parallelität, oder vielleicht besser, die Ähnlichkeit in der Form, Art und Weise der Handlung, selbst in den vordergründigen Wirkungen, zu.
Jedenfalls verstehe ich Neitzel so.
Übrigens ist die Unterlegung mit Hinweisen auf diverse Literatur etc. ausgezeichnet. Es ist nur etwas schwierig, hin und her nachzuschlagen.
Das Buch liest sich gut. Auch für den Laien kann es verständlich sein, wenn er/sie sich denn damit per se beschäftigen will.

OldMan

Na gut, interessante Einschätzungen des Buches.
Ich werde es mal bestellen.

Ich bin mit dem "Bundeswehr-Teil" durch. Neitzel ist recht erbarmungslos, was den Zustand der Bundeswehr (zu verschiedenen Zeiten) anbelangt: Sowohl "Innere Führung" wie Kampfkraft werden kritisiert. Ich bin nicht mit wirklichen Kenntnissen zur Bundeswehr "gesegnet", vieles, was ich wusste, habe ich angelesen. Insofern kommt es mir kaum zu, etwas mehr als nur Subjektives hier zu vermerken. Mein Eindruck ist, dass ich den meisten der Neitzelschen Ausführungen beipflichten kann (nochmals: Was ich weiß, habe ich angelesen, nur wenige Gespräche mit Verwandten, die beim "Bund" waren, habe ich führen können). Meine Erinnerungen aus meiner FuAR2-Zeit sind so, ohne dass ich selbst ständig am Lauschen auf KW war, dass die Hauptrolle bei der im Buch angerissenen "flexible response" auf dem Gebiet der Bundesrepublik fast ausschließlich die Amerikaner spielten. Das "Wir kämpfen solange, bis eine richtige Armee kommt!", was Neitzel als bösen Spruch der Bundeswehr-Soldaten anführt, war uns, eben bei der Funkaufklärung, irgendwie geläufig und ob richtig oder nicht, wir haben uns als bessere Soldaten in der NVA gefühlt. Sicherlich ist das überheblicher Nonsens gewesen, aber ich erinnere mich an solche Meinungen.
Nichtsdestotrotz ist klar, dass, wie Neitzel schreibt, die Bundeswehr gegen "Ende des Kalten Krieges" ganz offensichtlich an Format gewonnen und zu diesem Zeitpunkt einen Höhepunkt der allgemeinen Kampfkraft erreicht hatte.
Was mich seltsam berührt hat: Dass die Bundeswehr stark an die Wehrmacht anschloss (zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich intensiv) und trotz allem es nicht wirklich gelang, das von daher tradierte Soldatenbild des Kämpfers in die Gesellschaft hinein zu transferieren und in der Gesellschaft eine höhere Achtung für den Soldaten zu erreichen. Offensichtlich war das genauso wie in der DDR bei der NVA (die keine Wehrmachtstraditionen und-"rezepte" übernahm), die ebenso in der Gesellschaft nicht wirklich anerkannt war, jedenfalls nicht in der ganzen Breite.
Wenigstens hatte die Bundeswehr aber in der großen Masse eine liberalere Einstellung zum Dienst des Soldaten und vor allem des Wehrpflichtigen, die Kasernierung war nicht derart heftig, wie in der NVA: Wir als NVA-Soldaten haben das doch gewusst, weil Kommunikation mit Verwandtschaft im Westen nicht wirklich auszuschließen war (vor und nach dem Wehrdienst sowieso). Und hier wäre für uns noch Luft hin zu einem sachlicheren Dienstablauf einschließlich Urlaubsgewährung usw. gewesen. Ob das am politisch-moralischen Zustand aber wirklich etwas geändert hätte, glaube ich nicht.
Übrigens schreibt Neitzel, dass der staatsbürgerliche Unterricht (im Zusammenhang mit der "Inneren Führung") beim Bund, der in wesentlich geringerem Umfang als das beliebte "Polit" in der NVA durchgeführt wurde, keine wirklich meßbaren Effekte hinsichtlich Kapmpfbereitschaft und Vaterlandsliebe gebracht hätte. Und genauso sehe ich es (und sah es seinerzeit auch schon im aktiven Dienst) für die NVA: Der Effekt von politischer Erziehung war marginal und wirkte im Höchstfall in ausgewählten Bereichen der DDR-Armee.

OldMan

PS. Fällt mir noch ein Soldatenspruch der NVA ein: "Diene Du erst mal solange, wie ich in Polit schon geschlafen habe!" sagt der EK zum Spitz. ;-)

Eben habe ich auf das Handy einen Artikel des Tagesspiegel von Thomas Karlauf gepusht bekommen, der sich sehr abfällig über das Buch äußert. Ich kann diesen Artikel jetzt nicht verlinken, werde ihn morgen am PC suchen und versuchen, ihn hier zugänglich zu machen.
Vorab : Ich bin mit Karlauf nicht einverstanden. Meiner Ansicht nach verdreht er einige Aussagen bewusst.

OldMan